Predigttext: Lk 2
„Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da war, der da ist und der da kommt.“ Amen.
„Opa, ich glaube, ich habe eben das Christkind gesehen, draußen im Garten“, sagt die Enkeltochter zum Opa.
„Was für ein Glück! Bei all den Geschenken, die es zu verteilen hat, ist es äußerst selten, dass man es sieht“, sagt der Opa und blickt dabei mit einem liebevollen, ernsten Gesicht.
„Ja, aber Lea und Caro glauben mir das nie. Es war auch nur ganz kurz“, sagt sie aufgeregt.
„Vielleicht taucht es ja noch einmal auf?“, sagt der Opa und schaut dabei erwartungsvoll.
Liebe Gemeinde, wir haben eben die Weihnachtsgeschichte gehört, und ich muss Ihnen leider sagen: Sie ist nicht wahr. Sie ist so nie passiert.
Das hätten Sie, wenn Sie ein bisschen genauer zugehört hätten, auch selbst gemerkt. Die Geschichte beginnt mit einer Volkszählung, als Quirinius Statthalter in Syrien war. Das war im Jahr 6 nach Christus. In der Weihnachtsgeschichte von Matthäus hören wir jedoch, dass zur Zeit der Geburt Herodes König von Judäa war. Doof nur, dass der im Jahr 6 nach Christus schon lange tot war.
Und dann kommt noch dazu, dass wir von Jesus aus Nazareth sprechen, nicht von Jesus aus Betlehem, was der Fall wäre, wenn er tatsächlich dort geboren worden wäre. Und dass eine hochschwangere Frau von Nazareth nach Betlehem läuft – ja, für die Schnellrechner: 110 Kilometer über hügeliges Gelände durch Israel – so blöd waren die Menschen damals auch nicht. Besonders nicht bei einer Säuglingssterblichkeit von 30 % bis 50 %. Nie im Leben.
Und dann noch das mit der Jungfrauengeburt – kommen Sie schon …
Jetzt gucken Sie nicht so schockiert, das sind die harten Fakten. Oder um es theologisch zu sagen: die historisch-kritische Analyse. Frohe Weihnachten.
„Opa, ich bleibe heute einfach die ganze Nacht wach, dann kann ich vielleicht ein Foto machen“, sagt sie, greift nach der Sofortbildkamera und sprintet zum Fenster. Dort sitzt sie sehr lange … Irgendwann bringt ihr Opa Kekse und eine Decke.
„Das Christkind ist immer noch nicht zu sehen.“
„Ich wette, du wirst es noch erwischen. Ich warte einfach mit dir.“
Liebe Gemeinde, was hätten Sie gesagt, wenn Sie die Großeltern gewesen wären? Hätten Sie Ihr Enkelkind auch so dreist angelogen?
Fakten sind gut, oder? Sie sind klar, sie sind stichfest. Sie sind das, worauf wir bauen müssen in dieser Welt. Aber reichen Fakten zum Leben?
Wenn ich jetzt aufhören würde zu predigen – hätte Ihnen das inhaltlich gereicht für Heiligabend?
Liebe Gemeinde, da ist mehr. Ja, die Geschichten von Jesu Geburt, das ist keine historische Geschichte, sondern eine mythische Erzählung. Und das wussten, da bin ich mir sicher, auch schon die ersten Christ:innen. Sie haben sich diese Geschichte nicht erzählt, weil sie sich gegenseitig eine historische Begebenheit schildern wollten. Wie gesagt, die Menschen damals waren nicht dumm. Sondern es ging ihnen um etwas viel Wichtigeres, und es hängt mit der Frage zusammen, warum wir uns überhaupt Geschichten erzählen.
Haben Sie sich das schon einmal gefragt? Warum produzieren wir Menschen Filme, schreiben Bücher, führen Stücke auf oder erzählen uns Geschichten vom Christkind? Keine andere Spezies auf unserem Planeten macht das – allein wir Menschen. Salman Rushdie hat einmal gesagt: „Wir erzählen uns Geschichten, weil wir durch diese Geschichten etwas über uns selbst lernen.“ Und ich würde noch weiter gehen: Geschichten transportieren Erfahrungen.
In diesen Erfahrungen finden sich Wahrheiten, Weisheiten, Hoffnungen und eine Kraft, die uns verändern kann. Ich möchte dazu ein kleines Beispiel nennen:
Wer von Ihnen heute Abend ist nicht aus Köln? Wer ist zu Besuch hier?
Erst einmal: Herzlich willkommen in der tollsten Stadt Deutschlands!
Zum anderen: Ich wette, Sie werden definitiv schon gehört haben, dass jemand Ihnen erzählt hat, Köln sei zwar nicht die schönste Stadt, aber die Menschen, die hier wohnen, seien herzlich, offen, tolerant. Köln ist bunt.
Liebe Nicht-Kölner: Das stimmt. Aber das war nicht immer so. Köln war in der Zeit des Nationalsozialismus keine weltoffene Stadt. Auch nicht in der preußischen Besatzungszeit, auch nicht im Mittelalter oder im 16. und 17. Jahrhundert.
Aber irgendwann hat wohl ein Mensch eine tolle Erfahrung gemacht und angefangen, davon zu erzählen, dass Köln tolerant, weltoffen und die Menschen hier freundlich sind. Und die Geschichte wurde Wahrheit. Heute ist Vielfalt und Toleranz in Kölns DNA geschrieben. Glauben Sie mir, wenn hier jemand etwas gegen Homosexuelle sagt oder rechte Parolen schwingt, dann stehen die Kölner auf. Weil: Das macht man hier nicht.
Das ist die transformative Kraft von Erzählungen. Es braucht lediglich Menschen, die diese Geschichte erzählen, und es braucht Menschen, die dieser Geschichte vertrauen und anfangen, sie zu leben.
Und liebe Gemeinde, genauso ist es mit der Weihnachtsgeschichte oder mit den Geschichten, die wir Kindern über das Christkind erzählen, das Geschenke bringt. Das sind keine historischen Geschichten, das sind Mythen oder besser noch: Vertrauensgeschichten, die – wie schon gesagt – das Potenzial haben, unsere Welt zu verändern. Und das ist nicht hochgestapelt.
Denn letztlich ist das, was in diese Vertrauensgeschichten hineingewebt wurde, wahr: Ja, die Geschenke kommen vom Christkind. Denn ohne das Christkind gäbe es kein Fest, keine Geschenke zu dieser Zeit. Das Christkind erzählt uns, dass wir unverdient beschenkt werden – weil wir geliebt sind. Und alle werden beschenkt. Weil alle Menschen wertvoll sind.
Und ja, das, was uns die Weihnachtsgeschichte sagen will, ist ebenso wahr: Gott, der die Liebe selbst ist, wird einen Weg ebnen, durch Schwierigkeiten und Dunkelheit hindurch. Und diese Liebe ist unaufhaltbar. Gerade in der Dunkelheit scheint sie am hellsten.
Das mag pathetisch klingen – das darf es auch an Weihnachten. Und wenn Sie mich fragen: Ich wünsche Ihnen eine Glitterbombe ins Wohnzimmer, damit sich auch Tage danach noch Reste von Weihnachten in den Ecken finden.
Liebe Gemeinde, die Weihnachtserzählung ist wahr. Denn sie beschreibt, was möglich ist, wenn Menschen sich mit Gott auf den Weg machen. Dann schaffen es Menschen, 110 Kilometer über hügeliges Bergland zu laufen – oder vielleicht auch den viel schwereren Weg zu diesem einen Bruder, mit dem man seit Jahren kein Wort gewechselt hat.
Dann werden Menschen mutig und machen sich auf, ohne dass sie genau wissen, wo der Weg wohl enden wird. Sie riskieren etwas, weil sie Vertrauen haben, dass es gut wird, und weil sie wissen: Sie laufen nicht allein.
Dann wird ein dreckiger Stall zu einem heiligen Ort. Oder vielleicht auch dieser eine Moment unter dem Weihnachtsbaum, trotz des nervigen Onkels. Dann wird den Ausgegrenzten in dieser Gesellschaft die frohe Botschaft verkündet. Dann wird deutlich, dass wir alle geliebte Kinder sind, mit unseren Ecken und Kanten. Unser Blick wird geschärft, auch die zu sehen, die sonst übersehen werden. Dann werden Übermächtige vom Thron gestoßen, und die Schwächsten dürfen Platz nehmen am großen Tisch.
Oh, liebe Gemeinde – die Weihnachtsgeschichte ist eine Kampfansage gegen die Dunkelheit in dieser Welt. Und nein, es wird natürlich nicht plötzlich alles Friede, Freude, Eierkuchen. Aber ich glaube noch immer daran, dass, wenn wir Frieden und Verständnis im Kleinen beginnen, bei uns, dieser Friede größer werden und strahlen wird – ein Lichtermeer. Dann wird es hell werden, selbst in den dunkelsten Ecken.
„Ich hab das Christkind gesehen“, sagt der Opa. „Du hast leider schon geschlafen, und es war auch nur ganz kurz da.“
„Ehrlich?“, fragt sie mit großen Augen.
„Ja. Aber das Christkind kommt jedes Jahr, und ich bin mir sicher: Nächstes Jahr werden wir es gemeinsam sehen.“
Amen.
„Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne, in Christus Jesus, unsern Herrn.“